Jenseits des Jammerns: Die wahren Hürden bei der Fachkräftesuche aus Firmensicht

Gestern haben wir das Phänomen des Fachkräftemangels kritisch aus der Perspektive der Bewerbenden beleuchtet, die oft mit undurchsichtigen Prozessen und gefühlter Ungerechtigkeit konfrontiert sind. Doch die Medaille hat zwei Seiten, und es ist an der Zeit, einen Blick auf das komplexe Dilemma aus der Sicht der Arbeitgeber zu werfen.

Warum klagen Unternehmen so vehement über fehlende Fachkräfte? Ist der Markt wirklich so leer gefegt, oder liegen die Wurzeln des Problems tiefer, vielleicht sogar im Pool der Bewerbenden selbst?

Die Klage über den Fachkräftemangel ist oft mehr als nur ein bequemer Vorwand; sie entspringt realen Schwierigkeiten, die Unternehmen täglich erfahren. Hier sind einige zentrale Punkte, die das Bild vervollständigen:

Die Realität des Bewerberpools: Quantität vs. Qualität und überzogene Erwartungen

Viele Arbeitgeber berichten, dass die Quantität der Bewerbungen zwar hoch ist, die Qualität jedoch oft zu wünschen übriglässt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Bewerbende ihre Lebensläufe stark „polieren“ oder aufblähen, um den Anforderungen vermeintlich gerecht zu werden. Das führt dazu, dass die tatsächlichen Fähigkeiten und Erfahrungen erst im Bewerbungsprozess, oft sehr spät, aufgedeckt werden müssen. Das ist ein zeit- und kostenintensiver Aufwand, der die Frustration auf Arbeitgeberseite schürt.

Das Dilemma beginnt schon bei der ersten Sichtung: Obwohl ein grosser Stapel an Bewerbungen eingeht, passt ein erschreckend geringer Prozentsatz tatsächlich zu den benötigten Qualifikationen. Unternehmen fragen sich dann:

  • Taugen diese Bewerber nicht zu mehr?
  • Sind die Besten bereits vom Markt und fest vergeben, oder sind sie schlichtweg nicht verfügbar, weil sie nicht existieren?

Diese Frustration führt dazu, dass der Ruf nach Fachkräften lauter wird, da der „ideale“ Kandidat oft nicht in der Masse der Bewerbungen zu finden ist.

Ein erheblicher Anteil der Bewerbungen weist zudem überzogene Gehaltsvorstellungen auf, die oft nicht der tatsächlichen Marktrealität oder dem Mehrwert entsprechen, den die Kandidaten bieten können. Dies gilt insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die nicht mit den Gehältern globaler Konzerne konkurrieren können.

Mehr als nur Fachwissen: Soziale Kompetenzen, psychologische Eignung und die Suche nach dem „Perfekten“

Der vermeintliche Fachkräftemangel beschränkt sich selten nur auf fehlendes technisches Wissen oder bestimmte Hard Skills. Ein erheblicher Teil des Problems liegt oft im Bereich der Soft Skills und der psychologischen Eignung. Unternehmen benötigen nicht nur Expert:innen, sondern Teamplayer, die sich in dynamische Strukturen einfügen können und eine positive Arbeitsatmosphäre fördern.

  • Fehlende Teamfähigkeit: Viele Bewerbende, auch fachlich exzellente, scheinen Schwierigkeiten mit der Zusammenarbeit im Team zu haben. Projektarbeit, gemeinsame Problemlösung und eine offene Kommunikationskultur sind jedoch in modernen Arbeitsumfeldern unerlässlich.
  • Mangelnde Problemlösungskompetenz und Eigeninitiative: Obwohl fachlich versiert, fehlt es manchen Kandidaten an der Fähigkeit, über den Tellerrand zu blicken, selbstständig Lösungen zu entwickeln oder proaktiv Aufgaben anzugehen.
  • „Psychologisch weniger brauchbar“: Dies ist ein heikles, aber oft diskutiertes Thema. Es geht nicht um psychische Erkrankungen, sondern um Aspekte wie Resilienz, Kritikfähigkeit, Anpassungsfähigkeit oder die Fähigkeit, mit Druck umzugehen. In anspruchsvollen Positionen können hier Defizite schnell zu Problemen führen, die sich auf das gesamte Team auswirken.

Das hört sich alles etwas generisch an. Doch gerade die Generation Z (Gen Z) hat den Ruf, eine Herausforderung in der Zusammenarbeit und schwer zu führen zu sein.

Im August befragte Intelligent.com 966 Führungskräfte, die an Einstellungsentscheidungen in ihren Unternehmen beteiligt sind, um die Einstellung zur Einstellung von Gen Z-Hochschulabsolventen zu untersuchen.

Die Ergebnisse waren:

  • 75 % der Unternehmen berichten, dass einige oder alle der in diesem Jahr eingestellten Hochschulabsolventen unbefriedigend waren.
  • 6 von 10 Unternehmen haben einen in diesem Jahr eingestellten Hochschulabsolventen entlassen.
  • Jeder sechste Personalverantwortliche gibt an, zögerlich zu sein, Kandidaten aus dieser Kohorte einzustellen.
  • Personalverantwortliche sagen, dass aktuelle Hochschulabsolventen unvorbereitet auf die Arbeitswelt sind, die Arbeitsbelastung nicht bewältigen können und unprofessionell sind.
  • Jedes siebte Unternehmen könnte im nächsten Jahr davon absehen, Hochschulabsolventen einzustellen.
  • 9 von 10 Personalverantwortlichen sind der Meinung, dass Hochschulabsolventen ein Etikette-Training absolvieren sollten.

Dynamik des Arbeitsmarktes: Rasche Technologieentwicklung und Nischenkompetenzen

Die digitale Transformation und der rasante technologische Fortschritt, insbesondere im Bereich des Cloud Computing und der KI stellen Unternehmen vor enorme Herausforderungen.

  • Schneller Wandel von Skill-Anforderungen: Fähigkeiten veralten heute schneller denn je. Was gestern topaktuell war, kann morgen schon irrelevant sein. Bildungseinrichtungen und individuelle Weiterbildung kommen oft kaum nach, um diese Geschwindigkeit abzubilden. Unternehmen benötigen oft sehr spezialisierte Nischenfähigkeiten, deren Pool an qualifizierten Personen von Natur aus winzig ist.
  • Konkurrenz durch Global Player und Startups: Hoch begehrte Talente, insbesondere in den Bereichen IT, Data Science, Künstliche Intelligenz oder Cyber Security, sind extrem umkämpft. Grosse Tech-Giganten und gut finanzierte Startups locken mit oft unschlagbaren Gehältern, innovativen Projekten und einem attraktiven „Employer Branding“. Für traditionelle Unternehmen oder KMU wird es dadurch zunehmend schwer, diese Talente zu gewinnen oder zu halten.

Geografische Herausforderungen und Attraktivität des Arbeitgebers

Der lokale Markt kann ebenfalls Engpässe verursachen, auch wenn anderswo Fachkräfte verfügbar wären.

  • Mangelnde Umzugsbereitschaft/Pendelbereitschaft: Bewerber sind oft nicht bereit, für eine Position den Wohnort zu wechseln oder lange Pendelzeiten in Kauf zu nehmen. Dies schränkt den lokalen Talentpool für spezifische Standorte erheblich ein.
  • Employer Branding und Wahrnehmung: Kleinere, weniger bekannte Unternehmen oder solche in traditionellen Branchen haben es schwerer, sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren. Auch wenn sie wettbewerbsfähige Gehälter und gute Arbeitsbedingungen bieten, fehlt ihnen oft die Strahlkraft großer Marken, um Top-Talente anzuziehen.

Im Jahr 2022 kontrollierte die EU 2592 grosse multinationale Unternehmensgruppen (MNE), die in der EU und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) tätig sind.

Was die Beschäftigten betrifft, so arbeiten 74 % der Arbeitnehmer und Selbständigen in EU-EFTA, die in einem multinationalen Grosskonzern tätig sind, in einem Konzern, der von einem EU-Mitgliedstaat kontrolliert wird. Inzwischen werden 7 % der Arbeitnehmer und Selbständigen von EFTA-Ländern kontrolliert, während der Anteil der übrigen Welt 19 % beträgt.

Schweden (34,33 %), Luxemburg (31,9 %) und Finnland (28,1 %) wiesen den höchsten Anteil von Personen auf, die bei grossen multinationalen Unternehmen arbeiten. Auf der anderen Seite hatten Zypern (4,7 %), Griechenland (6,3 %) und Malta (7,9 %) den niedrigsten Anteil an Personen, die bei grossen multinationalen Unternehmen arbeiten. (Siehe auch: https://ec.europa.eu/eurostat/en/web/products-eurostat-news/w/ddn-20240430-2 )

Externe Faktoren: Bildungspolitik, Demografie und Bürokratie

Ein wichtiger Aspekt, der aus Arbeitgebersicht zum Fachkräftemangel beiträgt, ist die Bildungspolitik. Unternehmen bemängeln oft, dass das Bildungssystem nicht ausreichend auf die Anforderungen der modernen Arbeitswelt vorbereitet:

  • Fehlende Praxisnähe: Absolvent:innen verfügen oft über fundiertes theoretisches Wissen, sind aber nicht ausreichend auf die praktischen Herausforderungen im Arbeitsalltag vorbereitet. Es fehlt an relevanten Praktika oder der Vermittlung von anwendungsbezogenen Fähigkeiten.
  • Diskrepanz zwischen Studienrichtungen und Arbeitsmarktbedürfnissen: Es werden möglicherweise zu viele Studierende in Fachbereichen ausgebildet, für die es nur einen geringen Bedarf gibt, während in zukunftsrelevanten Bereichen ein Mangel an Absolvent:innen herrscht.
  • Zu wenig Nachkommen / demografischer Wandel: Die sinkende Geburtenrate in vielen westlichen Ländern führt langfristig zu einem kleineren Pool an Nachwuchskräften. Dies ist ein strukturelles Problem, das Unternehmen nur bedingt beeinflussen können, das aber den Wettbewerb um Talente verschärft.
  • Bürokratische Hürden bei der internationalen Rekrutierung: Während einige Unternehmen den Blick ins Ausland richten, ist der Prozess, internationale Fachkräfte einzustellen, oft komplex und langwierig. Visumsbestimmungen, die Anerkennung ausländischer Qualifikationen und administrative Auflagen (insbesondere in Ländern wie der Schweiz) können erhebliche Hürden darstellen und den Prozess unattraktiv machen.

Die nachfolgende Grafik zeigt die 20 meistgesuchten Berufe in Europa, wie sie sich aus Online-Stellenanzeigen im Jahr 2023 ergeben.

QUELLE: https://www.voronoiapp.com/economy/Europe-is-Hiring-Heres-What-Theyre-Looking-For–3859

Data Source: https://www.euronews.com/business/2025/01/03/most-in-demand-jobs-and-skills-in-europe-which-are-the-most-sought-on-the-internet

Das Dilemma der Arbeitgeber

Aus Arbeitgebersicht ist der Fachkräftemangel also ein komplexes Zusammenspiel aus mehreren Faktoren:

  1. Qualitäts- und Passungsmangel im Bewerberpool: Zu viele unpassende oder überzogene Bewerbungen.
  2. Mangelnde Soft Skills: Defizite in Teamfähigkeit, Eigeninitiative und psychologischer Belastbarkeit.
  3. Schneller Skill-Wandel und Nischenbedarf: Die Schwierigkeit, mit der rasanten Entwicklung von gefragten Fähigkeiten Schritt zu halten.
  4. Harte Konkurrenz: Der Kampf um Top-Talente gegen finanzstarke und attraktive Global Player.
  5. Geografische und Marken-Hürden: Eingeschränkte Mobilität der Bewerber und mangelndes Employer Branding.
  6. Strukturelle Probleme durch Bildung und Demografie: Ein Ungleichgewicht zwischen Ausbildung und Marktbedürfnissen sowie ein schrumpfender Talentpool.
  7. Bürokratische Hürden: Administrative Schwierigkeiten bei der Gewinnung internationaler Talente.

Mein Fazit

Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie nicht nur passive Empfänger von Bewerbungen sein können.

  • Sie sollten ihre eigenen Prozesse kritisch hinterfragen und modernisieren
  • Sie sollten erkennen, dass die Herausforderungen oft im Zusammenspiel von Bewerberqualifikation, der Dynamik des Marktes, der Bildungslandschaft und den eigenen, manchmal überzogenen, Erwartungen liegen
  • Sie sollten sich, sowohl in der Personalstrategie als auch in der aktiven Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen und der Politik neu ausrichten

So lässt sich der „Mangel“ in Zukunft wirklich überwinden und die Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen.

  • Related Posts

    Der Mythos vom Fachkräftemangel: Eine unbequeme Wahrheit für Unternehmen

    Inhalt: Einleitung Jahrelang hallt es durch die Wirtschaft: „Wir finden keine Fachkräfte!“ Unternehmen beklagen sich unablässig über unbesetzte Stellen, die angeblich das Wachstum hemmen und Innovationen ausbremsen. Doch was, wenn…

    Preisfallen durch Mehrfachlistungen – eine kritische Erfahrung mit der Firma Digitec

    Die Anforderungen an digitale Systeme wachsen kontinuierlich, und mit ihnen steigt auch der Bedarf an Speicherlösungen. Datenmengen nehmen rasant zu – sei es durch das Internet, Social Media oder die…

    You Missed

    ticketcorner.ch erlaubt es Tickets anderer Käufer abzurufen, doch Akamai schützt sie gegen (fast) alle Brute Force-Angriffe

    • Juli 7, 2025
    • 34 views
    ticketcorner.ch erlaubt es Tickets anderer Käufer abzurufen, doch Akamai schützt sie gegen (fast) alle Brute Force-Angriffe

    LLMs sind keine KI – Sie haben den Gott-Test nicht bestanden

    • Juni 28, 2025
    • 41 views
    LLMs sind keine KI – Sie haben den Gott-Test nicht bestanden

    NVIDIA und TELEKOM bauen eine KI-Gigafactory: Bekommt USA unsere Daten?

    • Juni 20, 2025
    • 63 views
    NVIDIA und TELEKOM bauen eine KI-Gigafactory:  Bekommt USA unsere Daten?

    Wird Vibe-Coding SaaS vernichten?

    • Juni 20, 2025
    • 59 views
    Wird Vibe-Coding SaaS vernichten?

    OpenAI löscht nichts – und Google?

    • Juni 20, 2025
    • 60 views
    OpenAI löscht nichts – und Google?

    Die unendlichen Hallos und der Millionenverlust von OpenAI

    • Juni 18, 2025
    • 70 views
    Die unendlichen Hallos und der Millionenverlust von OpenAI